Back on Highway 61

05 October 2005

Wer ist Tenzin Tsundue?

von Ramana Siddharth [1]


Das erste Mal habe ich von Tenzin Tsundue gehört, als mir ein tibetischer Freund vor anderthalb Jahren ein Buch mit Tsundues Gedichten gab [2]. Die Bemerkungen des Herausgebers zu diesem Buch beginnen mit diesen Worten: „Tenzin Tsundue ist verrückt. Er hat kein Geld, keine Arbeit, keine offizielle Position, kein Haus, keine Besitztümer, aber ist höllisch besessen vom Schreiben und seinem Aktivismus für ein freies Tibet.“ Starke Worte. Ich erinnere mich, das Buch verschlungen zu haben, mit dem Eindruck, dass es leidenschaftlich geschrieben sei – und dann nicht mehr daran gedacht zu haben.

Ein paar Tage später jedoch las ich eine Kolumne in der Tehelka-Zeitung mit dem Titel „Kein Kompromiss mit Tibet“ [3]. In dem mutigsten und leidenschaftlichsten Artikel, den ich je gelesen habe, verleiht Tsundue seiner Unzufriedenheit über die tibetische Exil-Regierung Ausdruck, da diese von ihrer ursprünglichen Haltung abgerückt sei und sich nun mit einem Autonomie-Status innerhalb des chinesischen Staates begnüge, anstatt komplette Freiheit von der chinesischen Besatzung einzufordern. Ich habe Tsundue daraufhin eine Mail geschickt, in der ich meinte, seine Regierung sei nur realistisch. Denn ich glaube, dass das chinesische Regime das barbarischste seit Hitlers Nazi-Diktatur in Deutschland ist.

Der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao ist zu Besuch in Indien. Tsundue wurde heute (am 10. April 2005) verhaftet als er von dem Dach eines Gebäudes des Indian Institute of Science aus protestierte, während der chinesische Staatschef dort gerade zu Wissenschaftlern sprach. Tsundue hielt vom Balkon des vierten Stocks aus eine Rede und befestigte dort ein „Free Tibet“-Banner. Das war nicht das erste Mal, das er zu solchen Maßnahmen gegriffen hat. Ein Abschnitt in den Erläuterungen von Tsundues Herausgeber bezieht sich auf ein Vorkommnis im Januar 2002 als „Er (Tsundue) ein Baugerüst bis zum 14. Stockwerk der Oberoi Towers in Mumbai erklomm, um eine Tibetische Nationalflagge und ein Banner zu entfalten, daß die Aufschrift ‚Free Tibet’ die Hotelfassade hinab zeigte. Chinas Staatspräsident Zhu Rongji befand sich in dem Hotel um eine Konferenz mit indischen Wirtschaftsmagnaten abzuhalten. Die Weltmedien berichten hiervon und indische Polizisten gratulierten ihm im Gefängnis dafür, dass er für seine Rechte eingetreten war“.

Tenzin Tsundue ist das Gesicht Tibets. Ich würde so weit gehen zu behaupten, dass er der tibetische Martin Luther King ist. Ich bin sehr um ihn besorgt. Er verfügt über die Kraft, die es braucht, um China zu unterwandern. Tatsächlich hat er in seinem kurzen Leben mehr für die Sache Tibets getan als die meisten Menschenrechtsorganisationen, Nationalisten oder globale Institutionen wie die UNO in Jahrzehnten. Ich bin sicher, dass die Chinesen genug von Tsundue haben, und daß sie zu jedem Mittel greifen werden (sogar indem sie Tsundue etwas antun), um den Tibetern eine Botschaft zu vermitteln. Im Moment kann ich nur für seine Sicherheit hoffen und beten, so wie es sicherlich alle gerechten Menschen tun würden. Allein durch die schiere Kraft seines Glaubens hat Tsundue den Traum von einem freien Tibet unwahrscheinlich gemacht – während dieser vor seinem Erscheinen in der Öffentlichkeit noch als völlig unmöglich erschienen war. Für alle diejenigen, die denken, ein einzelnes Individuum könne kaum etwas ausrichten ist Tsundue DAS klassische Beispiel für die Kraft des EINZELNEN. Ich sehe in ihm eine der Personen, die dem 21. Jahrhundert seine Gestalt geben werden.



[1] Der Autor Ramana Siddharth aus Madras/Indien veröffentlichte diesen Artikel zuerst in seinem Blog am 10.4.2005 auf Englisch. Später erschien der Artikel in einer Ausgabe des Tibetan World Magazine.
[2] Das Buch heisst „Kora“.
[3] Die Tehelka- Zeitung ist eine überregionale indische Zeitschrift, die zweimonatlich erscheint.

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